Es ist inzwischen über 10 Jahre her, dass mir eine Psychotherapeutin zum ersten Mal sagte, dass ich meine Mitte noch nicht gefunden habe und dieser Fakt die zentrale Ursache meiner Unzufriedenheit sei. Des Weiteren berichtete sie, dass viele Menschen erst mit Anfang 30 erkennen, was sie in ihrem Leben wollen und sich nach dieser Erkenntnis dann neu orientieren und Dinge grundlegend ändern. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich gehofft, dass es bei mir nicht bis zum 30. Lebensjahr dauern wird, schließlich lag das in weiter Ferne.
Was soll ich sagen? Es hat in der Tat ewig gedauert, bis ich mich so weit entwickelt hatte, dass ich mir meiner Selbst bewusst wurde. Sorry, das klingt ein bisschen poetisch. In meiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit (Schwule nennen das Twink-Zeitalter) habe ich die Probleme überall gesucht; nur eben nicht bei mir selbst. Ich habe permanent an meinem Leben herumgedoktort. Beziehungen beendet und wieder eingegangen, Wohnungen gemietet und wieder gekündigt oder verrückte berufliche Projekte gestartet und einen Haufen Geld verbrannt. Aber nichts davon hat meine Unzufriedenheit geschmälert, oder zumindest nie für lange. Kein dickes Auto, kein Sex, keine Wohnung und auch kein Alkohol. Die Therapeutin von damals konnte mir nicht weiterhelfen. Und auch einige Therapeuten danach brachten abgesehen von Riesen-Rechnungen kein spürbares Ergebnis.
2019.
Es folgte 2019 – das Jahr, das alles veränderte. Dieses mit Abstand schlimmste Jahr meines Lebens brachte mich mehr als nur an den Rand meiner Kräfte. Es war das Jahr, an dem ich beschloss, meine über zehn Jahre aufgebaute Firma zu verlassen. Ich konnte einfach nicht mehr, schon das zweite Mal in meinem Leben war ich in einer Mischung aus Überforderung und Burnout gefangen. Das erste Mal war 2014, also ganze fünf Jahre vorher. Doch Eines war dieses Mal anders: Ich beschloß, mein Leben zu ändern und zog es durch.
Was folgte, war aber nicht die erhoffte Erleichterung, sondern eine heftige Depression. Ich hatte keinen Bock mehr. Und so konsultierte ich erstmalig in meinem Leben neben einer Psychologin auch einen Psychiater, um die Wogen mit Medikamenten zu glätten. Bisher hatte ich eine solche Art von Medikamenten immer mit Nachdruck abgelehnt. Aber einmal ist halt immer das erste Mal.
Nach 10 bis 14 Tagen zeigte das erste Mittel seine Wirkung. Ich wachte morgens auf und von einen auf den anderen Tag war meine Motivation zurückgekehrt. Ich konnte wieder lachen. Schon wenige Tage später setzten auch die Nebenwirkungen ein. Der Arzt hatte bereits angekündigt, dass ich entweder gar nicht mehr geil werde oder den ganzen Tag notgeil bin. Das sei bei jedem Menschen unterschiedlich. Bei mir war es eine skurrile Kombination. Ich war den ganzen Tag geil, konnte aber nicht mehr bzw. erst nach sehr langer Zeit abspritzen. Es war eine Qual. Also ersetzen wir das Medikament beim nächsten Versuch durch ein Anderes. Der Sex klappte wieder, allerdings nahm ich innerhalb von vier Wochen fast 10 kg zu, da ich nur noch am Fressen war. Das war sogar noch schlimmer als die Sex-Nebenwirkungen. Mit 150 kg Körpergewicht hat man am Ende auch keinen Sex mehr. Medikament Nr. 3 führte dazu, dass mir den ganzen Tag übel war, teilweise wurde mir schwarz vor Augen. Wenn ich unterwegs war, musste ich mich oft an Straßenlaternen festhalten, um nicht umzukippen.
Drei Versuche mit Psychopharmaka, drei Mal für mich nicht akzeptable Nebenwirkungen. Ich entschied das Projekt mit den Medikamenten zu beenden. Glücklicherweise war die heiße Phase meiner Depression zu diesem Zeitpunkt vorbei und ich kam wieder ohne Chemie klar.
Der Neustart
Gegen Ende 2019 war das Kapitel des Ausstiegs aus meiner letzten Firma abgeschlossen und ich konnte mich der Zukunft widmen. So begann ich, Ideen zu Papier zu bringen und umzusetzen. Direkt am 2. Januar 2020 gründete ich voller Elan eine neue GmbH – mit der Urkundenrollennummer 1/2020 beim Notar, cool. Schließlich wusste ich genau, was ich wollte – zumindest beruflich. Und auch wenn es gerade zu Anfang recht schwer war, das notwendige Geld zu verdienen, schaffte ich es bereits im Juli, meine gesteckten Umsatzziele für das Jahr zu erreichen. Im Vergleich zu meinen früheren Tätigkeiten mit einem Bruchteil des Stresses und einem Bruchteil der Verantwortung. Ich war beruflich sehr viel schneller als gedacht. Das Jahr 2020 endete sogar mit 250% des Umsatzziels.
Quasi nebenbei bestand ich eine meine Abschlussprüfung zum „Fachinformatiker Anwendungsentwicklung“ bei der IHK. Dazu muss man wissen, dass ich schon immer selbstständig bin und nie eine Ausbildung gemacht habe. Kann man allerdings mindestens drei Jahre Berufserfahrung nachweisen, darf man sich zur IHK-Prüfung anmelden. Besteht man diese, bekommt man den entsprechenden Nachweis.
Ich war meiner Mitte sehr viel näher gekommen, gefunden hatte ich sie aber dennoch nicht. So mietete ich ein kleines Büro und arbeitete lässig vor mich hin. Ausfüllen konnte es mich noch nicht.
Was sind bitte Werte?
Die Therapie bei meiner letzten Psychotherapeutin hatte ich die ganze Zeit fortgeführt. Einfach auch deshalb, um nicht erneut in eine Depression zu verfallen. Und irgendwann im Frühling 2020 geschah es, dass sich mich fragte, was denn meine Werte seien. Mehr als „äh“ konnte ich nicht herausbringen, ich wusste es schlicht nicht und hatte mir auch nie Gedanken darüber gemacht. Es waren einige Erklärungen notwendig, um zu erkennen, worauf sie hinaus wollte. Einige Wochen lang konnte ich die Frage nicht beantworten. Die meisten meiner Gedanken kreisten sich um meine Werte, ich grübelte. Sogar im Traum suchte ich nach der Antwort. Was sind meine Werte? Irgendwann wachte ich morgens auf und hatte sie gefunden. Ich war mir meiner Werte bewusst. Und anders als anfangs vermutetet waren diese Werte nicht, besonders viel Geld zu verdienen oder erfolgreich zu sein und Macht zu haben, nein. Meine Werte sind Freiheit & Unabhängigkeit. In der nächsten Therapiestunde verkündigte ich meine Erkenntnis mit vollen Stolz. Nur um direkt mit der nächsten Aufgabe konfrontiert zu werden.
Diese Aufgabe hatte es in sich. Aber sie war aber der Schlüssel für alles, was ich heute lebe und liebe. Es ging um die simple Sache, alles in meinem Leben zu überdenken und zu sehen, ob es meinen Werten entspricht. Wenn ich feststelle, dass eine Sache nicht meinen Werten entspricht, sollte ich überlegen, ob es Sinn macht sie zu ändern. Diese Prüfung aller Bestandteile meines Lebens hat meinen Minimalismus multipliziert. Es war der erste Schritt auf dem Weg zum digitalen Nomaden. Kein Stein blieb auf dem Anderen. Beziehung, gemietetes Büro, meine Wohnung. Fast kein Teil meines Lebens entsprach meinen Werten. Interessant. Ich habe mein halbes Leben vollkommen entgegen meiner Werte gelegt und mich dann gewundert, warum ich unglücklich bin. Nun gut, vielleicht haben sich meine Werte im Laufe der Jahre auch geändert.
Was in den Monaten darauf passiert ist, könnt ihr lesen, wenn ihr meinen Blog ab dem ersten Beitrag lest.
Und heute? Ausgerichtet auf meine neuen Werte lasse ich mich von Nichts und Niemandem von meinem Weg abbringen. Ich möchte die Welt sehen, bevor ich 40 bin. Glücklicherweise habe ich dazu noch ein paar Jahre Zeit.


