Es ist Sonntag morgen, 10:30 Uhr. Der erste Tag meines neuen Lebens, der erste Tag der Testphase, der erste Tag den Reisens. Ich stehe am Hauptbahnhof Hannover und warte auf den Zug in Richtung meiner neuen Freiheit. Die wenigen anwesenden Menschen starren mich an. Scheinbar haben sie schon lange niemand mehr mit Reisekoffer gesehen. Die Sonne scheint. Nicht! Natürlich nicht. Die nächsten zehn Tage sind Regen angekündigt, sowohl in Hannover als auch an meinem ersten Ziel an der Ostsee. So wird die Idee mit den langen Strandspaziergängen wohl ins Wasser fallen. Vielleicht falle ich sogar einem Orkan und Hagel oder Schneestürmen zum Opfer.

Gestern war wieder so ein Tag, der durch Zweifel geprägt war. Tue ich wirklich das Richtige? Doch diese Zweifel betreffen nicht mein Vorhaben, künftig als digitaler Nomade durch die Welt zu ziehen. Sie betreffen auch nicht das Aufgeben meiner Wohnung oder das Loswerden aller meiner Sache. Wohnungen und Gegenstände bedeuten mir inzwischen wirklich gar nichts mehr. Nein, diese Zweifel betreffen nur eine Sache: Dass ich mich für das ortsunabhängige Leben und gegen meine Beziehung entschieden habe. Auf den Punkt gebracht lautet der Zweifel: Muss ich mich da wirklich entscheiden?

Schon seit je her bin ich ein schwarz-weiß-Mensch. Für mich (als Softwareentwickler nicht wirklich überraschend) gibt es 0 oder 1, true oder false, schwarz oder weiß. Ein 0,5 oder grau ist in meiner Welt nicht vorhanden. Während meiner kompletten Planungen und Gedanken über das Nomaden-Thema stand für mich daher fest, dass ich mich entscheiden muss: Mein aktuelles Leben mit Beziehung oder das neue Leben von unterwegs. Einen möglichen Mittelweg habe ich schlicht nicht in Erwägung gezogen. Ist es möglich, beide Welten zu kombinieren?

Es ist ja nicht so, dass mir das Freunde noch nicht gesagt hätten. Ganz im Gegenteil. Immer wenn ich über Liebeskummer klagte, wurde mir der Tipp gegeben, ich solle doch mal über die Kombination beider Pläne nachdenken. Das habe ich kategorisch ausgeschlossen. Warum nicht? Mir kam das einfach unrealistisch und abwegig vor.

Als ich gestern in einem Gespräch wie gewohnt von meinem Freund gesprochen habe und zu Recht gefragt wurde, seit wann wir wieder zusammen sind, fiel mir der Fehler auf. Exfreund wäre richtig gewesen. Daraufhin wurde ich gefragt, ob ich ihn noch liebe. Und natürlich ist die Antwort darauf ja. Es tut aktuell sehr weh. Es überschattet die neu gewonnene Freiheit.

Verzeiht mir also, wenn ich im weiteren Verlauf dieses Textes von Freund und nicht von Exfreund spreche. Das Ex-Wort gefällt mir nicht. Über zwei Jahre lang haben wir eine sehr glückliche Fernbeziehung geführt. Über ca. 300km von Frankfurt nach Hannover und umgekehrt. Und es war bisher die aufregendste Beziehung, die ich je führen durfte. In einem anderen Artikel habe ich ja bereits über die verrückte Kennenlern-Geschichte berichtet. Wir erlebten so viele gemeinsame Partys, so viele gemeinsame Wochenenden, so viele tolle gemeinsame Reisen. Wir verbrachten viel Zeit in der Dusche oder der Badewanne und viel Zeit mit unseren gemeinsamen Freunden. Natürlich nicht beides gleichzeitig, was in schwulen Beziehungen ja durchaus passiert.

Ruhe an der Ostee

Ab heute habe ich ein paar ruhige Tage an der Ostsee, in denen ich mir über diesen neuen Gedanken der Kopf zerbrechen kann. Und ja, nicht nur ich kann das entscheiden, schließlich gehören (mindestens) zwei Leute in eine Beziehung. Und nach allem, was ich meinem Freund in den vergangenen Monaten angetan und an den Kopf geworfen habe, kann ich wohl nicht von ihm verlangen, mit mir gemeinsam das Experiment einer Fernbeziehung mit dauernd wechselnden Aufenthaltsorten zu wagen. Ich habe ihn mehr oder weniger im Stich gelassen: Bei wichtigen Lebensentscheidungen, bei wichtigen Ereignissen, bei so vielen Dingen. Aber gehen wir nur mal theoretisch davon aus, das alles wäre für ihn zumindest denkbar, müsste man einfach ausprobieren, wie gut das in der Realität klappt.

Es ist ja nicht so, dass er gar nicht mobil arbeiten kann. Er kann es halt nur nicht immer tun. Zumal ist das für ihn auf Grund des Kaufs einer Wohnung und entsprechender Renovierung wohl ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Über zwei Jahre haben wir uns ohne auch nur eine einzige Pause jedes Wochenende gesehen. Und auch wenn es nur alle zwei Wochenenden gewesen wäre, würde das wohl keinen großen Unterschied zu jetzt machen. Er kann mich überall (zumindest in Deutschland und Europa) spontan besuchen. Ebenfalls sorgt meine BahnCard 100 dafür, dass ich innerhalb von jedem Ort in Deutschland spontan zu ihm nach Frankfurt fahren könnte, wenn mich die Sehnsucht packt.

In meiner letzten Phase als Single habe ich das Dating sehr genossen und auch dieses Mal hatte ich mich irgendwie drauf gefreut. Allerdings ist es dieses Mal komplett anders: Mich nervt es und ich habe keinen Bock drauf. Ich bin gar nicht wirklich an anderen Typen interessiert und betrachte dieses ewige Rumgechatte als reine Zeitverschwendung.

Es wird Zeit, mit meinen Freund über diese Dinge zu sprechen. Und vielleicht hört er mir sogar zu.